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LASST ES BLEIBEN – MACHT ES BESSER!

24. Juni 2022

Symposium des BDA NRW im Viktoriabad Bonn

Zwei Imperative als Titel eines Symposiums – mit solcher Vehemenz wird man selten eingeladen. Doch der BDA NRW wollte direkt auf den Punkt kommen, denn die Erkenntnis ist längst da: das Bauen im Bestand, das Abwägen und Verhandeln von Verändern und Bewahren gegenüber der einfachen Praxis des Abreißens und Neubauens wird in Zukunft einen erheblichen Teil des Architekturschaffens ausmachen. Aufbauend auf die parallel gezeigte Ausstellung „Sorge um den Bestand“ sollte es bei dem eintägigen Symposium am 10. Juni 2022 nun um die Fragen der Umsetzung gehen: wie können wir Bestand bewerten, wie verändert sich unser Verständnis von Ästhetik, wie die Konstruktionsprinzipien und der Entwurfs- oder Planungsprozess? Und wie wird Architektur in Zeiten dieses Paradigmenwechsel gelehrt?

Ausstellung im großen Becken | © Simon Veith

Der Einladung in das vom BDA für vier Wochen zum Ausstellungs- und Konferenzort umfunktionierten trockenliegenden Bonner Viktoriabad waren rund 85 Expert*innen, Interessierte und Kolleg*innen, Lehrende und Studierende gefolgt, die sich gleichermaßen erfreut über die Atmosphäre in der 70er Jahre Schwimmhalle mit dem großen Kunstglasfenster zeigten, wie erschreckt über die Ratlosigkeit der Stadt mit deren Zukunft.
Nach der Begrüßung durch den BDA NRW Landesvorsitzenden Gert Lorber übernahm der Journalist und Architekturhistoriker Jörg Biesler die Moderation des Symposiums. In zwei Runden hörten die Gäste Vorträge von Referent*innen, die mit ihrer praktischen oder wissenschaftlichen Arbeit stützten, was die Ausstellung „Sorge um den Bestand“ anschaulich fordert. Anschließend gab es in jeweils vier Tischgesprächen die Möglichkeit einzelne Themen gemeinsam zu vertiefen. Das Nichtschwimmerbecken wurde für die Laufzeit der Ausstellung bestuhlt und zum Auditorium umfunktioniert.

Auditorium im kleinen Becken | © Simon Veith

Warum wir mehr solcher ungewöhnlichen Ansätze brauchen, erläuterten Katja Fischer (Programm- und Projektleiterin IBA Thüringen) und Jan Kampshoff (modulorbeat, Münster; Entwerfen und Baukonstruktion TU Berlin) mit ihrem Eröffnungsvortrag AUFBRUCH INS BESTEHENDE. Beide, die auch an der Konzeption der Ausstellung und der darin formulierten 10 Thesen maßgeblich beteiligt waren, weckten diejenigen im Publikum, die noch an der Notwendigkeit des Wandels zweifelten, mit unschönen Nachrichten und erschreckenden Zahlen und verwiesen auf die Bauwirtschaft als Schlüsselsektor im Klimawandel.

Dass die moralische Revolution bereits läuft, war auch im Publikum zu spüren, ob alle bereit sind, die neue politische Seite der Architektur auch auszuüben, wird sich zeigen. Mit Turit Fröbe haben Fischer und Kampshoff 100 Fragen an Architektinnen und Architekten gestellt, die bei der Neupositionierung helfen können, Abreißblöcke mit den Fragebögen liegen in der im Schwimmerbecken nebenan aufgebauten Ausstellung aus. Sie berichteten aber auch aus ihrer Praxis mit dem erweiterten Berufsbild als Architor*innen und Kuratekt*innen, deren Handeln unter der Leitfrage steht: wie wenig ist genug?  Auch für die Lehre forderten sie einen Paradigmenwechsel, weg vom weißen Blatt, um Transformation mit neuen Methoden zu unterrichten. Ihre Forderung: Lasst uns aufbrechen ins Bestehende! Es gibt viel zu entdecken!

Genau diesen Weg geht die in Bonn ansässige Montag Stiftung Urbane Räume, wie Robert Winterhager als Redner des 1. Panels anschließend erläuterte. Mit dem Ziel gemeinwohlorientierter Stadtentwicklung (SCHÖN, DASS IHR DABEI SEID!) schaut die Stiftung in die Stadtteile, wo Menschen leben, die weniger Chancen haben als der Durchschnitt. Mit dem Initialkapitalprinzip lassen sich soziale mit dem wirtschaftlichen Gedanken verknüpfen, die Stiftung erwirbt (in der Regel über einen Erbbaurechtsvertag) eine Immobilie, investiert in den Bestand, gründet eine gemeinnützige Gesellschaft, die das Projekt betreibt und baut dadurch eine inklusive und solidarische Gemeinschaft mit Menschen aus dem Stadtteil auf, die sich einbringen und Verantwortung übernehmen. Nichts sei aufgesetzt oder übergestülpt, denn wichtig sei die langfristige Perspektive, denn erwirtschaftete Überschüsse fließen zurück in den Stadtteil. Dass dies und wie in der Praxis funktioniert, zeigten die gelungenen Transformationen der Samtweberei in Krefeld und des BOB-Campus in Wuppertal.

Orte schaffen, an denen Menschen sich wohlfühlen. Eine ganz andere Perspektive brachte die Architektin Inge Vinck (architecten jan de vylder inge vinck, Gent; Kunstakademie Düsseldorf) im 2. Panel ein, als sie mit zauberhaften Bildern DIE POESIE DES GEBRAUCHTEN erläuterte. Dabei sei die weder Ziel noch als Ausgangspunkt, sie sie einfach da, sie passiere halt. Man müsse das neue Sehen lernen, das neue Verstehen. So bekämen Dinge und Zustände eine neue Bedeutung: Fehler wie Risse in der Wand werden zu Schmuck, Wunden und Fehlstellen zu Auszeichnungen, Alt und Neu beginnen ein Gespräch. Manchmal sei die Poesie das Ergebnis von Bedürfnissen, manchmal das nicht Erwartete, in jedem Fall mache sie das Leben anders, man müsse sie nur zulassen, ermutigte Vinck das Publikum und schloss mit einem Zitat aus Leonard Cohens Anthem: “There is a crack in everything, that’s how the light gets in”.

Von der Poesie ins Business erschien als ein großer Sprung, dabei zog Annabelle von Reutern, die die Firma Concular vorstellte, doch am selben Strang. Wenn in Zukunft mehr nach dem Prinzip „Form follows Verfügbarkeit“ entworfen werden müsste, sei die Kreislaufwirtschaft (RECYCLING UND WIEDERVERWENDUNG) für Baumaterialien zwingend notwendig. Heute werden nur 1 % der Materialien wieder in den Kreislauf gebracht, um den anzukurbeln hat Concular ein digitales Ökosystem für zirkuläres Bauen entwickelt, vom Material- und Produktpass über das Match-Making, bis zur Ökobilanzierung und Wertberechnung werden alle Leistungen angeboten. Auch einige großen Entwickler – ohne die es nicht gehe – seien bereits auf den Zug aufgesprungen, die zirkuläre Wertschöpfung sei eine Chance für alle.

Tischgespräche 1. Runde
Bestand und Denkmal – Zwei Seiten einer Medaille?
Moderation: Prof. Oskar Spital-Frenking (Spital-Frenking + Schwarz Architekten und Stadtplaner BDA, Dortmund; Baudenkmalpflege Hochschule Trier)
Ressource Nachbarschaft – Gemeinwohlorientiert und Nachhaltig
Moderation: Dr. Robert Winterhager (Montag Stiftung Urbane Räume gAG, Bonn)
Die Poesie des Gebrauchten – Veränderte Sehgewohnheiten oder neue Ästhetik?
Moderation: Peter Köddermann, Baukultur Nordrhein-Westfalen
Ressource Haus – Form follows Verfügbarkeit
Moderation: Annabelle von Reutern (Concular, Berlin)

Nach der Mittagspause stellte Jitse van den Berg (noAarchitecten, Brüssel) in seinem Vortrag für das 3. Panel METAMORPHOSEN – UMNUTZUNG, WEITERBAU, REPARATUR UND WANDEL die außergewöhnliche Transformation eines Gefängnisses in Hasselt in eine juristische Fakultät vor. Im Wettbewerb war der Umgang mit dem schwierigen Bestand offengelassen worden, die genaue Betrachtung offenbarte die großen Ambitionen der ursprünglichen Planung. Mit der Idee des goldenen Käfigs wurden Zellen zu Studierzimmern, der Raum zwischen den Flügeln zum Auditorium, die hohe Mauer bleibt bestehen, doch die Tore sind weit geöffnet. Hier ist durch Hinzufügen ein einzigartiger Ort entstanden, ähnlich agierte das Büro auch bei Het Steen, dem ältesten Haus Antwerpens, wo sie die Grenze zwischen Geschichte und Gegenwart mit ihrem Weiterbau zur Empörung vieler verwischten, um neue Geschichten zu erzählen und ganz nebenbei auch Teil des Hochwasserkonzeptes wurden.

Tim Rieniets bei der Schlussrunde moderiert von Jörg Biesler

Im 4. Panel unter dem Titel SECOND HAND URBANISM berichtete Tim Rieniets (Institut für Entwerfen und Städtebau, Leibniz Universität Hannover) als Mit-Erfinder des Wortes Umbau-Kultur, dass sich das Thema seit seiner ersten Beschäftigung damit 2014, verstetige und sogar schon etwas in den politischen Diskurs einsickere. Seinen Beitrag widmete er dem städtebaulichen Maßstab, denn da unsere Städte zu groß für den Abriss sind (tabula rasa machen nur Autokraten!), seien wir Umbauer wie unsere Vorfahren. Das Umbauen sei schon immer Bestandteil unseres architektonischen Wertekanons gewesen, wir hatten es über die Reformversprechen der Moderne nur aus den Augen verloren. Doch es gab sie, die vielen kleinen Interventionen der vielen einzelnen Grundbesitzer, doch Infrastrukturen, Straßen, Friedhöfe, Gleisanlagen etc. überdauerten. Rieniets ging es nicht nur um den Erhalt der grauen Energie, sondern auch um den Erhalt sozialer Strukturen. Orte von ganz besonderem Reiz entstünden dort, da wo alte Ort überformt werden, dies solle aktiv in die heutige Städtebaupraxis einbezogen werden. Weiter in die Zukunft gedacht rief er dazu auf, die Straßen, Parkhäuser und Tankstellen nach der Mobilitätswende neuen Nutzungen zuzuführen und verwies nach Barcelona und New York. Frage man sich, wie diese Praxis Alltag werden könne, müsse man von den Kindern lernen, den Skatern, die er als Pioniere der Überformung und Entfremdung bezeichnete. Unerwartete Situationen entstünden auch manchmal aus Mangel an Alternativen oder durch einen abrupten Wandel der Gesellschaft, wie ihn die Pandemie erzwungen habe. Mit einem Luftbild der auf die für den Verkehr gesperrte A45 gepinselten Friedensbotschaft schloss er dann: Lasst uns Brücken bauen!

Marc Pouzol (atelier le balto, Landschaftsarchitekten, Berlin) widmete seinen Redebeitrag dem Potential der Nische (Fuge). Bei der Sanierung des Palais de Tokyo fand sich unter einer dicken Schicht Müll doch noch Erde. Dort hinein, in die schmalen schattigen Öffnungen des Gebäudes wurden 2.500 Stauden gepflanzt, die sich, mehr Transformation als Gestaltung, in 10 Jahren in einen Dschungel verwandelt haben, der schöner nicht sein könnte. Auch das Gewächshaus auf dem Neubau des Oberhausener Jobcenters von Kuehn Malvezzi tat einen Raum auf, der dort nie vermutet wurde. Über eine 5 Geschosse hohe vertikale, mit wildem Wein, Kletterhortensie, Kiwi und Blauregen berankte Promenade wird der halböffentliche Dachgarten erschlossen, das dort wachsende Obst und Gemüse wird unten auf dem Markt verkauft. Das Nichtfertige, das ewige Wachsen und Werden, so forderte Pouzol, solle seinen Platz in der Stadtentwicklung haben, das müssten auch die Studierende lernen. Interessant war auch, dass das „irrsinnig kompliziertes Bewässerungssystem“ durch eine halbe Gärtnerstelle ersetzt werden konnte – nun gießt Herr Grüner auf dem Dach. Und damit schloss sich vor der zweiten Runde der angeregt geführten Tischgespräche der Kreis damit, dass über all das Denken und Handeln, die Materie und die Natur, der Mensch doch in allen diesen Kreisläufen auch die eigene Rolle immer wieder neu erfinden muss.

Die Atmosphäre im Viktoriabad war intensiv, der Wunsch sich auszutauschen und neben den best-practice-Beispielen auch neue intellektuelle, ästhetische und technische Argumente zur weiteren Verbreitung mitzunehmen, war allgemein groß. Und wenn die Forderung des Titels auch von der Bonner Politik gehört wurde, könnte man an gleicher Stelle anknüpfen und statt Abriss zu beschließen lieber Pläne für die Zukunft von Viktoriabad und Stadthaus machen.

Tischgespräche 2. Runde
Wachsender Bestand
Moderation: Ayşin İpekçi (Studyo Architects, Köln)
Die große Unsicherheit – warum Rechtsnormen den Bestand gefährden
Moderation: Prof. Georg Giebeler (4000architekten, Köln; Bauen mit Bestand und Baukonstruktion, Bergische Universität Wuppertal)
Second Hand Urbanism – Wie aus Umnutzung Stadt werden kann
Moderation: Prof. Tim Rieniets (Institut für Entwerfen und Städtebau, Leibniz Universität Hannover)
Zurück in die Zukunft – Bestand in der Lehre
Moderation: Prof. Jan Kampshoff (modulorbeat, Münster; Entwerfen und Baukonstruktion TU Berlin)

Text: Uta Winterhager

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